Harald Duwe Werk Texte Kontakt

Jens-Christian Jensen, Das Werk Harald Duwe heute, 1994

Download Text als RTF


An die zehnjährige Wiederkehr des Todes von dem Maler und Zeichner Harald Duwe mit einer Ausstellung zu erinnern, entspringt nicht allein biographischer Pietät oder persönlicher Verpflichtung, - beides spielt natürlich bei den Veranstaltern und bei mir selbst mit. Der entscheidende Grund war vielmehr das Bedürfnis – das uns als Notwendigkeit erschien -, das Werk in dieser besonderen Zeitsituation sowohl in Erinnerung zu rufen als auch auf den Prüfstand erneut zu stellen.
Diese besondere Situation betrifft einerseits die strukturellen tief greifenden Veränderungen  der deutschen, der europäischen  und der globalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Koordination seit der Wiedervereinigung unseres Landes und der damit einhergehenden Zersetzung des sowjetischen Machtbereiches, und sie bezieht sich andererseits auf die Wirkungen des Werkes von Harald Duwe. Zum ersten Komplex muss hier nicht gehandelt werden, denn seit dem Fall  „der Mauer“ werden wir in den letzten Jahren täglich mit den Schwierigkeiten konfrontiert, die sich direkt oder mittelbar aus dem weltweiten Umbruch ergeben; der zweite jedoch geht dieses Ausstellungsunternehmen direkt an.  Deshalb sei hier etwas eingehender auf die Rezeptionsgeschichte des Werkes von Harald Duwe in den letzten zehn Jahren eingegangen.

I.
Am Freitag, den 15. Juni 1984 war Harald Duwe auf der Rückfahrt von Kiel nach Großensee, von seiner Arbeit als Dozent und im Atelier der Fachhochschule Kiel nach Hause tödlich verunglückt. Ohne ersichtlichen Grund war er aus einer Fahrzeugkolonne ausgeschert und mit einem entgegenkommenden Wagen zusammengestoßen, dessen Fahrer ebenfalls starb. Die Trauerfeier am 22. Juni in der Tymmo-Kirche von Lütjensee – ein strahlender Sommertag – vereinigte Familie, Schüler, Freunde und Verehrer seiner Kunst, eine Menschenmenge, die auch etwas Demonstratives bekundete: Duwes Wirkungen in der Kunst Schleswig-Holsteins und darüber hinaus in der Bundesrepublik. Er gehörte zu den profiliertesten „Realisten“ der Republik, eine störrische Minderheit, die sich nicht den Trends der Westkunst unterordnen oder angleichen wollte, ungeliebt, nur vereinzelt auf einer der großen Gegenwartsausstellungen und niemals auf der documenta je vertreten, dennoch von einer Minderheit geschätzt und von einigen Museumsleuten und Kunstkritikern beharrlich gewürdigt.
Ich selbst hatte Duwe bald nach Antritt meines Amtes als Direktor der Kunsthalle zu Kiel kennen gelernt, - er wie ich waren Mitglieder der Jury der Bauabteilung des schleswig-holsteinischen Finanzministeriums, die über „Kunst am Bau“ zu befinden hatte. 1974 hatte ich dann die erste Retrospektive seines Werkes in der Kunsthalle veranstaltet. Meine Beweggründe waren vielschichtig.
Zuerst war es Pflicht der Kunsthalle, die Kunst der Region wenigstens einmal im Jahr in einer Ausstellung zu berücksichtigen. Dann fiel mir Duwes Malerei gleich zu Beginn meiner Tätigkeit immer wieder auf: Sie schien mir die stärkste künstlerische Potenz in Schleswig-Holstein zu vergegenwärtigen. Als ich sein Atelier also im Herbst 1974 zum ersten Mal besuchte, bestätigte sich dieser Eindruck. Hier war ein Maler, der seit seinem Studium an der Hochschule für bildende Kunst in Hamburg, also seit 1950 als so genannter „freier Maler“ unter Entbehrungen und materiellen Schwierigkeiten mit unerschütterlicher Konsequenz ein Werk geschaffen hatte, welches seine Grundlagen nie verleugnet, vielmehr mit jedem Werk kräftiger fundamentiert hatte: Sichtbare Wirklichkeit zu beobachten und möglichst adäquat darzustellen, Themen zu bearbeiten, die auf politische und gesellschaftliche Ereignisse und Fragestellungen mit provokanter Überzeugung antworteten. Die realistisch-agitatorischen und sozialkritischen Künstler nach 1918, diese Dix, Grosz, Hubbuch, Radziwill, Schlichter betrachtete er als seine Väter, als seine Vorfahren Courbet, Goya, Menzel, Velasquez, Waldmüller. Von den Künstlern der so genannten „klassischen Moderne“ interessierte ihn eigentlich nur Max Beckmann wirklich, in der Gegenwart war er wohl von Francis Bacon früh beeindruckt. Es kümmerte ihn nicht, dass die Kunst nach 1945 diese Tradition kaum beachtete und unter dem Diktat der abstrakten Malerei, des Informel oder der action painting, später der Pop-art usw. in Deutschland den Anschluss an eine zunehmend durch die Kunst der USA geprägte Internationalität erstrebte.
Mir hat diese künstlerische Selbstbehauptung imponiert, zumal ich bald merkte, dass dieses Bekenntnis zum Realismus Duwes einzig künstlerische Möglichkeit war. Sie entsprang nicht Überlegungen, sie war nicht Ergebnis taktischer Zielvorstellungen, sie war keine „Kopfgeburt“, sondern dies war für Duwe die einzige sinnvolle Arbeit am Bild, die er sich vorstellen konnte. Er war sozusagen als Realist geboren. Er konnte nur malen und zeichnen, was er beobachtet, was er in der Wirklichkeit wahrgenommen hatte. Von da aus konnte er komponieren und abstrahieren, von an aus seine Themen mit Figuren und Gegenständen inszenieren.


II.
Das galt gerade auch für seine thematischen Besetzungen. Die Anstöße kamen von Außen – z.B. haben die Auschwitzprozesse der 60er Jahre seine Bildfolge der Gefolterten veranlasst -, trafen aber in ihm auf eine tiefe Bereitschaft zur Konfession. Kunst war für Duwe auch seine Möglichkeit, Stellung zu beziehen, Bekenntnis abzulegen, in die politischen oder gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen. Im Grunde glaubte er an die gesellschaftliche Wirksamkeit der Kunst, ohne sich allerdings Illusionen über deren verändernde Kraft zu machen.
Duwes Figurenbilder mit Auschwitzthematik, seine Strandbilder, seine politisch engagierten oder gesellschaftskritischen Arbeiten waren in der Regel unverkäuflich, stießen auf verdrückte Ablehnung oder offene Missachtung. Ihn hat das sicherlich oft verletzt, aber nicht davon abgehalten, in dieser Richtung weiterzumachen.

Auch dies entsprang keiner Strategie. Duwe konnte nicht anders künstlerisch arbeiten. Die Themen waren in ihm, wurden nur durch äußere Anlässe ans Licht geholt oder besetzten den Künstler so, dass er sich von ihnen befreien musste, indem er sie gestaltete. Dabei war Duwe ein „Linker“, aber kein linker Opportunist. Seine kleinbürgerliche Herkunft, die Erfahrungen der Naziherrschaft und des Krieges hatten ihn unwiderruflich geprägt. Immer fand er sich deshalb, ohne nachzudenken zu müssen, auf der Seite der alltäglichen Belastungen und der ärmlichen Banalitäten auf Seiten der Opfer, der Aufbegehrenden, der kleinen, zu Fettpolstern und Wohnwagen gekommenen Leute. Dabei sah er dies alles und alle diese nicht unkritisch, sondern scharf und mit liebender Schonungslosigkeit. Er hat selten idealisiert, seltener pathetisch überzeichnet. Sein Pathos lag in der Vorstellungskraft, die detailliert die grässlichen Verletzungen der am Balken hängenden Gefolterten mit nicht nachlassender Wut beschrieb und in der sich Abscheu und Faszination mischte. Manchmal hat er da des Schrecklichen zuviel getan, manchmal wollte er zuviel erzählen, manchmal war die thematische Besetzung zu groß, ließ sich nur schwer im Bild bändigen. Aber immer wieder gelangen ihm eindrucksvolle stimmige Formulierungen, die noch heute und die –wie ich überzeugt bin – auch in Zukunft ihre Überzeugungskraft bewahren.


III.
Alles dies war für mich der dritte Grund, Duwes Werk 1974 zu zeigen, für die Kunsthalle eine Folge seiner Bilder zu erwerben und sein Werk über die Jahre hin nicht aus den Augen zu lassen. Die Tatsache, dass es im Schatten der Kunstentwicklung nach 1945 in Deutschland und im westlichen Ausland lag, irritierte mich dabei nicht, sondern bestärkte mein Interesse an Harald Duwes Arbeiten. Ich habe nie viel von den Trends unserer Kunstszene gehalten. Sie ebnen ein, geben taktisch Starken und künstlerisch Schwachen immer wieder die Möglichkeit, unverhältnismäßig beachtet zu werden. Anderes bleibt im Schatten. Oft wird es plötzlich “entdeckt“ und gefeiert, oft bleibt es verborgen. Mir schien es die Pflicht eines regionalen/überregionalen Museums zu sein, sich auch für die wenigen eigenständigen Künstler der Region mit Nachdruck einzusetzen, unabhängig von den Direktiven des Kunstbetriebes. Nach meiner Auffassung sollten Museen gerade in der Gegenwartskunst nicht Trends folgen und so verstärken, sondern Künstler fördern, deren Werk die Ausstellungsverantwortlichen überzeugt. Duwes Werk ist für mich en Musterbeispiel für Unabhängigkeit und künstlerische Individualität geblieben. Das ist auch Zeichen künstlerischer Qualität, die sich in der Inkarnation dessen zu bewähren hat, was den Künstler tatsächlich bewegt, das, was er mitfühlend und engagiert unabhängig von Tradition, Stilen oder Kunstaktualität für wahr und deshalb für gestaltenswert hält. Für den außen stehenden kritischen Beobachter –und als solcher hat der Museumsmann zu handeln – ist es letzten Endes dabei unerheblich, ob ein solches Werk in seiner Gegenwart Erfolg hat oder beachtet wird. Wenn ein Künstler sich mit Haut und Haaren seinem Werk verschreibt, rücksichtslos gegen sich selbst (und oft genug gegen andere), ist diese Besessenheit die Voraussetzung für eigenschöpferisches Handeln. Bei Duwe war das der Fall, und so hat mich seine Malerei immer wieder gefesselt und immer wieder überzeugt. Dass daraus eine Freundschaft entstanden ist, die harte Dispute ebenso zuließ wie gemeinsame Kunsterlebnisse in Museen oder Konzertsälen, - dafür behalte ich lebenslang die Gewissheit des Beschenkten.


IV.
Duwes Einwirkungen waren in den siebziger und in den wenigen Jahren nach 1980 in Schleswig-Holstein kaum zu überschätzen, in der Bundesrepublik war er weithin bekannt als engagierter Vertreter einer realistischen Malerei. 1970 hatte er in Hamburg den Edwin-Scharff-Preis erhalten, der mit einer Ausstellung verbunden war. Seit 1975 war er Lehrer einer Malerei –Klasse am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Kiel, 1981 wurde ihm der Kulturpreis der Landeshauptstadt Kiel verliehen.
Duwe war ein unbequemer Lehrer. Dennoch haben ihn seine Schüler anerkannt, ja auch geliebt, weil er mit seiner Meinung nicht hintern Berg hielt, offen diskutierte und seine Überzeugungen mit Nachdruck vertrat, die seine Studenten vielleicht gerade dann beeindruckten, wenn sie gegensätzlicher Auffassung waren. So manchen hat er auf diese Weise zu künstlerischen Entscheidungen getrieben, denn flaue Neutralität war nicht seine Sache. Dementsprechend war sein Einfluss auf die Kunst im nördlichen Bundesland bedeutend. Er verkörperte mit seinem Werk eine Position, die zur Auseinandersetzung herausforderte. Dazu hat er viel dazu beigetragen, dass Kunst und Künstler in der Region lebendig und diskussionsbereit blieben und nicht „hinter den norddeutschen Knicks“ in einem Schonraum, landesweit gepäppelt, zu anspruchsloser Zufriedenheit verkommen sind, - die drohende Gefahr der Kulturhoheit der Bundesländer.
Die Anerkennung von Harald Duwes Werk und Wirken hat sich in der Gedenkausstellung der Hamburger Kunsthalle im November 1984, die Werner Hofmann eingerichtet hat, ebenso niedergeschlagen wie in der großen Retrospektive, die ich 1987 in der Kunsthalle zu Kiel veranstaltete. Damit war der Höhepunkt der Wirkung dieses Werkes zugleich erreicht und überschritten. Die Tatsache, dass Duwes Werk heute im deutschen Bewusstsein kaum noch eine Rolle spielt, dass seine Werke von den Museen in die Depots verbannt werden, dass seitdem keine größeren Ausstellungen in Kunstvereinen oder Museen mehr stattgefunden haben, ja dass einzelne Bilder als eine Art dokumentarische Belege nur noch bei Themenausstellungen zu finden sind, zeigt, dass Duwes Schaffen dabei ist, in Vergessenheit zu fallen. Das hat mehrere Gründe, die ich versuchen will, zu benennen.
In Schleswig-Holstein hatte man gewiss Duwes Schaffen auch mancherorts als Belastung empfunden. Manche Künstler fühlten sich an den Rand gedrängt, zumal sich nicht nur die Kunsthalle zu Kiel unter meiner Leitung in der Region eindeutig zu diesem Schaffen bekannte, sondern auch die anderen Museen immer wieder seine Arbeiten zeigten. Bei den Ausstellungen schleswig-holsteinischer Kunst der Gegenwart war er in der Regel prominent vertreten. Es ist verständlich und folgt dem Gesetz der Generationen, dass Duwes Wirkungen nach seinem Tod verblassten. Nach dem Tod eines Künstlers und nach den gemeinhin folgenden Gedenkausstellungen tritt zumeist eine Zäsur ein, die notwendig ist, um Distanz zu gewinnen und die Person vom Werk zu trennen, das nun ohne seinen Meister allein bestehen muss. Allerdings währt diese Pause in Schleswig-Holstein nun zehn Jahre, auch ein Grund für uns, wieder an dieses Werk zu erinnern.
Vielleicht spielte in Schleswig-Holstein auch der Regierungswechsel mit. Endlich, nach mehr als drei Jahrzehnten hatte die SPD 1988 wieder die Landesregierung übernommen, - auf die Umstände dieser Wahl sei hier nicht eingegangen. Duwe jedenfalls hätten sie zu Bildern herausgefordert. Es lag nun der mit sensationeller Mehrheit gewählten Partei daran, die Wählerscharen auf allen möglichen Gebieten der Landespolitik freundlich zu stimmen. Duwes kritischer Realismus passte da nicht ins Bild. Der Gedanke, einen Harald-Duwe-Preis zu stiften, der von der SPD noch 1987 öffentlich verkündet worden war, wurde stillschweigend begraben. Die Tatsache jedoch, dass unter der neu gewählten Ministerpräsidentin diese Ausstellung und Publikation über den Zeichner Harald Duwe möglich geworden ist, mag hier ein Umdenken signalisieren.
Es kommt aber noch ein anderer, gravierendster Grund hinzu. Wer in den sechziger bis achtziger Jahren Duwes Werk abschätzig beurteilen wollte, erinnerte gern an den Sozialistischen Realismus der DDR. Künstler wie die Nationalpreisträger Gille, Heisig oder Sitte waren Duwe doch offensichtlich verwandter als die meisten aktuellen Künstler in der Bundesrepublik. Bilder zu malen, auf denen die Demonstranten Tafeln mit Kiesinger-Bildnis oder mit Helmut-Schmidt-Konterfei vorzeigten, Bilder, auf denen Polizisten zuschlugen und Demonstranten Steine aus der Straße rissen, überhaupt die kritische wahrhaftige und treffende Darstellung bundesrepublikanischen Wohlstandes am Strand oder am vollen Esstisch, der Bundeswehr, der bösen Wohlstandskinder, die ihre Torten umklammern und sich um Schokoladen-Osterhasen streiten, - diese ganze Kunst mit ihrer aufsässigen Thematik war eigentlich ein bisschen verdächtig, zumindest eine Parallele zur Kunst in der DDR und deren agitatorischen Inhalte. Hinzu kam, dass die SED-freundliche Zeitschrift TENDENZEN mehrfach über Duwes Werk berichtet hatte.

Seit Zerstörung der Mauer, seit der Wiedervereinigung ist auch der gesamte Realismus, sei er nun DDR-geprägt oder bundesdeutsch, in Verruf geraten. Künstler wie Gille, Heisig, Sitte und Tübke wurden nun als abschreckende Künstlerexistenzen verurteilt, ihre Werke in den Orkus verbannt. Diskussionen in einigen führenden Zeitungen haben das Verdikt über die DDR-Kunst fürs erste und im Ganzen scheinbar befestigt. Ich denke, Duwes Schaffen ist in diesem Strudel mit hineingerissen worden, obgleich es kaum etwas mit der Entwicklung in der DDR zu tun hat. Duwe selbst war alles andere als ein Kommunistenfreund.

Wenn ich eine Prognose wagen darf, so würde ich die Widerauferstehung des Duweschen Werkes nicht mehr in diesem Jahrhundert erwarten. Zu sehr ist es gerade mit der alten Bundesrepublik verbunden, zu sehr auch mit der Identität der Deutschen überhaupt. Erst wenn die Deutschen zu sich selbst gefunden, erst wenn sie gemeinsam ihren Standort in der Welt neu und verpflichtend bestimmt haben, wird auch das Schaffen eines Harald Duwe seinen historischen und seinen jeweils gegenwärtigen Wirkungsbereich finden. Dass wir es jetzt, 1994, unternehmen, sein zeichnerisches Werk wieder ins Bewusstsein zu heben, möchte der öffentlichkeit die Möglichkeit geben, dieses Schaffen auf seine künstlerische Aussagekraft hin zu prüfen, dessen Leistung zu erkennen, dessen Grenzen abzuschätzen. Jeder mag selbst beurteilen, ob oder in wie weit ihn Duwes Werk heute betrifft. So mag wenigstens ein Wissen um die Substanz dieses Werkes wach bleiben bis es zu neuer Aktualität entdeckt wird.

Einiges ist schon heute von zeitloser Gegenwärtigkeit. Ich denke besonders an so manches Strandbild, an die Darstellungen ausgelieferter Opfer, an die Demonstrationen und die Fördeszenen, ich denke an die Kinder-Bilder. Sie sind erschreckender Weise so aktuell wie zur Zeit ihrer Entstehung, sie sind zum Teil noch vor uns, weil wir ihre Botschaft noch nicht wirklich wahrgenommen haben.


V.
Noch eine letzte Überlegung sei dargelegt. Es ist kein Zweifel, es sind offensichtlich seit den dreißiger Jahren nicht Werke bildende Kunst, die uns Katastrophen, Kriege, politische und gesellschaftliche Ereignisse ins Gedächtnis eingeprägt haben, sondern es sind Fotografien, es sind Filme, es sind Fernsehbilder. Leni Riefenstahls Filmdramen sagen mehr und Präziseres über die nationalistische Herrschaft aus als z.B. Kokoschkas allegorische Agitationsbilder der 40er Jahre. Die Judenvernichtung vergegenwärtig sich uns im Foto aus dem Warschauer Getto mit dem kleinen Jungen, der die Hände hoch nimmt oder mit dem Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“. Dasselbe gilt für die deutsche Kapitulation, für den Vietnam-Krieg (das Foto mit den Kindern, die auf den Fotografen zulaufen, mit Napalmwunden bedeckt), für Kennedys Ermordung, für Willi Brandts Kniefall in Warschau, natürlich für die Ereignisse am 9. November 1989 und heute für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die Uno-Einsätze in Somalia. Es gilt im Grunde für alles, was sich ereignet, besonders für alles Schreckliche, nicht Fassbare. Die Kamerabilder prägen unser Gedächtnis, nicht die der Kunst. (Was geschieht, wenn man einem Ereignis die Bilder verweigert, lehrt uns der Golfkrieg. Er bleibt für uns ein abstraktes Feuerwerk in Bagdad.)

Wenn in dieser Situation ein kritischer Realist nicht die Palette an die Wand hängt und sein Atelier zum Partyraum umbaut, muss er sich dieser Konkurrenz stellen, in der er jedenfalls erst einmal der Unterlegene ist. Gegen die Kamera kann er nicht anmalen. Wie schon Otto Dix in seinen Kriegs- und Krüppelbildern, wie schon George Grosz in seinen Schilderungen der Raffgesellschaft der Besitzenden der zwanziger Jahre muss er Parabeln, Gleichnisse erfinden, muss weglassen und komprimieren. Er darf nicht als Reporter vorgehen und nicht als pathetischer Agitator. Ausgehend von Realität muss er Realität erfinden. Das Detail muss stimmen, aber diese Stimmigkeit darf nicht ins Fotografische abgleiten. Der Realist muss sich signifikante Situationen erarbeiten und muss dabei seine illustrative und narrative Darstellungslust zügeln. Oft sagt eine Figur, ein Gesicht mehr als eine Figurenkomposition. Unsere Ausstellung gibt eine Vorstellung von Duwes unablässiger Bemühung, letzte Konzentration zu gewinnen. Der Schnappschuss der Kamera, der Zufall des „glücklichen Augenblicks“, dem so manches unvergessliche Foto seine Entstehung verdankt, ist dem Realisten verwehrt. Eher ist er zu vergleichen mit dem Regisseur, der Atmosphäre und Handhabung einer Szene plant, den Kameramann einweist und dennoch der Eingebung eines Augenblicks, einem Zufall das Beste verdanken kann. Überdies: Die Inhalte müssen in Malerei aufgehen. Sie darf nicht das Gerüst des Bildes kolorieren, sie muss es auflösen, um es in Malerei, in Farbe und Form, in Materialität und diesem kaum benennbaren Element von Spiritualität neu zu erschaffen. Zwischen Plakat und dokumentarischem Foto muss der Maler den schwierigen Weg der Malerei beschreiten. Der Realist braucht also eine Bildvision, die zwischen Wirklichkeitsnähe und inhaltlicher Tendenz einen zwingenden Ausgleich findet, der sich im Bild und nur und ausschließlich im Bild vergegenwärtigt.

Harald Duwe ist dies immer wieder gelungen. Ich merke es daran, dass seine Bilder meine Sicht auf die Wirklichkeit verändert haben. Sitze ich z.B. am Strand, so sehe ich die dicken Mammis, die Kinder und Wurstesser mit seinen Augen, - und denke dann oft, er war doch ein Menschenfreund, die Wirklichkeit ist viel abstoßender. In seinen Kinderbildern hat er überzeugende Gleichnisse geschaffen, die alles über unsere Wohlstandsgesellschaft aussagen. Das Thema „Floß auf der Förde“ ist überlokales gültiges Menetekel. Seine Figuren und Bildnisse aus der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, in denen der Auschwitzzyklus im Mittelpunkt stand, bleiben in ihrer morbiden Fleischlichkeit zeitlose Darstellungen von Opfern. Wie sich seine Gefolterten in ihrer grausigen Eindringlichkeit als Kunstwerke bewähren, bleibt abzuwarten. Fest steht, immer wenn Duwe reduziert, immer wenn er seine penetrante Direktheit zügelt, immer wenn er seine thematische Besessenheit beherrscht, seinen moralischen Protestantismus an die Kandarre nimmt, hat er überzeugende Bilder geschaffen, in denen Malerei und Inhaltlichkeit aus sich selbst das Bild errichten und eine neue Einheit bilden.

Aber gewiss ist auch dies: Ohne das Wagnis der großen Erzählbilder, des Ausmalens von grausigen Details wären ihm diese Werke nicht gelungen. Scheitern und künstlerischer Erfolg (nicht Kunstmarkterfolg) liegen bei ihm, wie bei jedem Künstler, der diese Benennung verdient, dicht beieinander. Wie er sich aus seinen Begrenzungen jeden Tag wieder herausgearbeitet hat bis zum einzig richtigen Bild, das bleibt seine schöpferische Leistung. Dabei galt sein Interesse dem Menschen und seiner gesellschaftlichen und sozialen Umwelt. Hier lag sein Engagement “Partei ergreifen“ – ein Schlagwort der Linken in den siebziger Jahren – lehnte er ab als idealistische Position. Er war als Künstler Beobachter, nicht Agitator. Indem er malte, zeichnete, erklärte er sich selbst die Wirklichkeit der Welt und der Katastrophen – und Unterdrückungsgeschichte seit 1933, erklärte, klärte er seine eigenen Ängste, Erlebnisse, Erfahrungen und seine traumatische Befindlichkeit. Er malte für sich selbst und stellvertretend für uns. Wie weit heute und in Zukunft die Wirkungen seines Schaffens reichen, - ich weiß es nicht. Doch ich bin der Überzeugung, dass jeder aufmerksame Betrachter seines Werkes nicht nur einiges über die Realitäten seiner Zeit erfährt, sondern auch über sich selbst..