An die zehnjährige Wiederkehr des Todes von dem Maler und Zeichner
Harald Duwe mit einer Ausstellung zu erinnern, entspringt nicht allein
biographischer Pietät oder persönlicher Verpflichtung, - beides
spielt natürlich bei den Veranstaltern und bei mir selbst mit. Der
entscheidende Grund war vielmehr das Bedürfnis – das uns als
Notwendigkeit erschien -, das Werk in dieser besonderen Zeitsituation
sowohl in Erinnerung zu rufen als auch auf den Prüfstand erneut zu
stellen.
Diese besondere Situation betrifft einerseits die strukturellen tief greifenden
Veränderungen der deutschen, der europäischen und
der globalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Koordination
seit der Wiedervereinigung unseres Landes und der damit einhergehenden
Zersetzung des sowjetischen Machtbereiches, und sie bezieht sich andererseits
auf die Wirkungen des Werkes von Harald Duwe. Zum ersten Komplex muss
hier nicht gehandelt werden, denn seit dem Fall „der Mauer“
werden wir in den letzten Jahren täglich mit den Schwierigkeiten
konfrontiert, die sich direkt oder mittelbar aus dem weltweiten Umbruch
ergeben; der zweite jedoch geht dieses Ausstellungsunternehmen direkt
an. Deshalb sei hier etwas eingehender auf die Rezeptionsgeschichte
des Werkes von Harald Duwe in den letzten zehn Jahren eingegangen.
I.
Am Freitag, den 15. Juni 1984 war Harald Duwe auf der Rückfahrt von
Kiel nach Großensee, von seiner Arbeit als Dozent und im Atelier
der Fachhochschule Kiel nach Hause tödlich verunglückt. Ohne
ersichtlichen Grund war er aus einer Fahrzeugkolonne ausgeschert und mit
einem entgegenkommenden Wagen zusammengestoßen, dessen Fahrer ebenfalls
starb. Die Trauerfeier am 22. Juni in der Tymmo-Kirche von Lütjensee
– ein strahlender Sommertag – vereinigte Familie, Schüler,
Freunde und Verehrer seiner Kunst, eine Menschenmenge, die auch etwas
Demonstratives bekundete: Duwes Wirkungen in der Kunst Schleswig-Holsteins
und darüber hinaus in der Bundesrepublik. Er gehörte zu den
profiliertesten „Realisten“ der Republik, eine störrische
Minderheit, die sich nicht den Trends der Westkunst unterordnen oder angleichen
wollte, ungeliebt, nur vereinzelt auf einer der großen Gegenwartsausstellungen
und niemals auf der documenta je vertreten, dennoch von einer Minderheit
geschätzt und von einigen Museumsleuten und Kunstkritikern beharrlich
gewürdigt.
Ich selbst hatte Duwe bald nach Antritt meines Amtes als Direktor der
Kunsthalle zu Kiel kennen gelernt, - er wie ich waren Mitglieder der Jury
der Bauabteilung des schleswig-holsteinischen Finanzministeriums, die
über „Kunst am Bau“ zu befinden hatte. 1974 hatte ich
dann die erste Retrospektive seines Werkes in der Kunsthalle veranstaltet.
Meine Beweggründe waren vielschichtig.
Zuerst war es Pflicht der Kunsthalle, die Kunst der Region wenigstens
einmal im Jahr in einer Ausstellung zu berücksichtigen. Dann fiel
mir Duwes Malerei gleich zu Beginn meiner Tätigkeit immer wieder
auf: Sie schien mir die stärkste künstlerische Potenz in Schleswig-Holstein
zu vergegenwärtigen. Als ich sein Atelier also im Herbst 1974 zum
ersten Mal besuchte, bestätigte sich dieser Eindruck. Hier war ein
Maler, der seit seinem Studium an der Hochschule für bildende Kunst
in Hamburg, also seit 1950 als so genannter „freier Maler“
unter Entbehrungen und materiellen Schwierigkeiten mit unerschütterlicher
Konsequenz ein Werk geschaffen hatte, welches seine Grundlagen nie verleugnet,
vielmehr mit jedem Werk kräftiger fundamentiert hatte: Sichtbare
Wirklichkeit zu beobachten und möglichst adäquat darzustellen,
Themen zu bearbeiten, die auf politische und gesellschaftliche Ereignisse
und Fragestellungen mit provokanter Überzeugung antworteten. Die
realistisch-agitatorischen und sozialkritischen Künstler nach 1918,
diese Dix, Grosz, Hubbuch, Radziwill, Schlichter betrachtete er als seine
Väter, als seine Vorfahren Courbet, Goya, Menzel, Velasquez, Waldmüller.
Von den Künstlern der so genannten „klassischen Moderne“
interessierte ihn eigentlich nur Max Beckmann wirklich, in der Gegenwart
war er wohl von Francis Bacon früh beeindruckt. Es kümmerte
ihn nicht, dass die Kunst nach 1945 diese Tradition kaum beachtete und
unter dem Diktat der abstrakten Malerei, des Informel oder der action
painting, später der Pop-art usw. in Deutschland den Anschluss an
eine zunehmend durch die Kunst der USA geprägte Internationalität
erstrebte.
Mir hat diese künstlerische Selbstbehauptung imponiert, zumal ich
bald merkte, dass dieses Bekenntnis zum Realismus Duwes einzig künstlerische
Möglichkeit war. Sie entsprang nicht Überlegungen, sie war
nicht Ergebnis taktischer Zielvorstellungen, sie war keine „Kopfgeburt“,
sondern dies war für Duwe die einzige sinnvolle Arbeit am Bild, die
er sich vorstellen konnte. Er war sozusagen als Realist geboren. Er konnte
nur malen und zeichnen, was er beobachtet, was er in der Wirklichkeit
wahrgenommen hatte. Von da aus konnte er komponieren und abstrahieren,
von an aus seine Themen mit Figuren und Gegenständen inszenieren.
II.
Das galt gerade auch für seine thematischen Besetzungen. Die Anstöße
kamen von Außen – z.B. haben die Auschwitzprozesse der 60er
Jahre seine Bildfolge der Gefolterten veranlasst -, trafen aber in ihm
auf eine tiefe Bereitschaft zur Konfession. Kunst war für Duwe auch
seine Möglichkeit, Stellung zu beziehen, Bekenntnis abzulegen, in
die politischen oder gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen. Im Grunde
glaubte er an die gesellschaftliche Wirksamkeit der Kunst, ohne sich allerdings
Illusionen über deren verändernde Kraft zu machen.
Duwes Figurenbilder mit Auschwitzthematik, seine Strandbilder, seine politisch
engagierten oder gesellschaftskritischen Arbeiten waren in der Regel unverkäuflich,
stießen auf verdrückte Ablehnung oder offene Missachtung. Ihn
hat das sicherlich oft verletzt, aber nicht davon abgehalten, in dieser
Richtung weiterzumachen.
Auch dies entsprang keiner Strategie. Duwe konnte nicht anders künstlerisch
arbeiten. Die Themen waren in ihm, wurden nur durch äußere
Anlässe ans Licht geholt oder besetzten den Künstler so, dass
er sich von ihnen befreien musste, indem er sie gestaltete. Dabei war
Duwe ein „Linker“, aber kein linker Opportunist. Seine kleinbürgerliche
Herkunft, die Erfahrungen der Naziherrschaft und des Krieges hatten ihn
unwiderruflich geprägt. Immer fand er sich deshalb, ohne nachzudenken
zu müssen, auf der Seite der alltäglichen Belastungen und der
ärmlichen Banalitäten auf Seiten der Opfer, der Aufbegehrenden,
der kleinen, zu Fettpolstern und Wohnwagen gekommenen Leute. Dabei sah
er dies alles und alle diese nicht unkritisch, sondern scharf und mit
liebender Schonungslosigkeit. Er hat selten idealisiert, seltener pathetisch
überzeichnet. Sein Pathos lag in der Vorstellungskraft, die detailliert
die grässlichen Verletzungen der am Balken hängenden Gefolterten
mit nicht nachlassender Wut beschrieb und in der sich Abscheu und Faszination
mischte. Manchmal hat er da des Schrecklichen zuviel getan, manchmal wollte
er zuviel erzählen, manchmal war die thematische Besetzung zu groß,
ließ sich nur schwer im Bild bändigen. Aber immer wieder gelangen
ihm eindrucksvolle stimmige Formulierungen, die noch heute und die –wie
ich überzeugt bin – auch in Zukunft ihre Überzeugungskraft
bewahren.
III.
Alles dies war für mich der dritte Grund, Duwes Werk 1974 zu zeigen,
für die Kunsthalle eine Folge seiner Bilder zu erwerben und sein
Werk über die Jahre hin nicht aus den Augen zu lassen. Die Tatsache,
dass es im Schatten der Kunstentwicklung nach 1945 in Deutschland und
im westlichen Ausland lag, irritierte mich dabei nicht, sondern bestärkte
mein Interesse an Harald Duwes Arbeiten. Ich habe nie viel von den Trends
unserer Kunstszene gehalten. Sie ebnen ein, geben taktisch Starken und
künstlerisch Schwachen immer wieder die Möglichkeit, unverhältnismäßig
beachtet zu werden. Anderes bleibt im Schatten. Oft wird es plötzlich
“entdeckt“ und gefeiert, oft bleibt es verborgen. Mir schien
es die Pflicht eines regionalen/überregionalen Museums zu sein, sich
auch für die wenigen eigenständigen Künstler der Region
mit Nachdruck einzusetzen, unabhängig von den Direktiven des Kunstbetriebes.
Nach meiner Auffassung sollten Museen gerade in der Gegenwartskunst nicht
Trends folgen und so verstärken, sondern Künstler fördern,
deren Werk die Ausstellungsverantwortlichen überzeugt. Duwes Werk
ist für mich en Musterbeispiel für Unabhängigkeit und künstlerische
Individualität geblieben. Das ist auch Zeichen künstlerischer
Qualität, die sich in der Inkarnation dessen zu bewähren hat,
was den Künstler tatsächlich bewegt, das, was er mitfühlend
und engagiert unabhängig von Tradition, Stilen oder Kunstaktualität
für wahr und deshalb für gestaltenswert hält. Für
den außen stehenden kritischen Beobachter –und als solcher
hat der Museumsmann zu handeln – ist es letzten Endes dabei unerheblich,
ob ein solches Werk in seiner Gegenwart Erfolg hat oder beachtet wird.
Wenn ein Künstler sich mit Haut und Haaren seinem Werk verschreibt,
rücksichtslos gegen sich selbst (und oft genug gegen andere), ist
diese Besessenheit die Voraussetzung für eigenschöpferisches
Handeln. Bei Duwe war das der Fall, und so hat mich seine Malerei immer
wieder gefesselt und immer wieder überzeugt. Dass daraus eine Freundschaft
entstanden ist, die harte Dispute ebenso zuließ wie gemeinsame Kunsterlebnisse
in Museen oder Konzertsälen, - dafür behalte ich lebenslang
die Gewissheit des Beschenkten.
IV.
Duwes Einwirkungen waren in den siebziger und in den wenigen Jahren nach
1980 in Schleswig-Holstein kaum zu überschätzen, in der Bundesrepublik
war er weithin bekannt als engagierter Vertreter einer realistischen Malerei.
1970 hatte er in Hamburg den Edwin-Scharff-Preis erhalten, der mit einer
Ausstellung verbunden war. Seit 1975 war er Lehrer einer Malerei –Klasse
am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Kiel, 1981 wurde ihm der
Kulturpreis der Landeshauptstadt Kiel verliehen.
Duwe war ein unbequemer Lehrer. Dennoch haben ihn seine Schüler anerkannt,
ja auch geliebt, weil er mit seiner Meinung nicht hintern Berg hielt,
offen diskutierte und seine Überzeugungen mit Nachdruck vertrat,
die seine Studenten vielleicht gerade dann beeindruckten, wenn sie gegensätzlicher
Auffassung waren. So manchen hat er auf diese Weise zu künstlerischen
Entscheidungen getrieben, denn flaue Neutralität war nicht seine
Sache. Dementsprechend war sein Einfluss auf die Kunst im nördlichen
Bundesland bedeutend. Er verkörperte mit seinem Werk eine Position,
die zur Auseinandersetzung herausforderte. Dazu hat er viel dazu beigetragen,
dass Kunst und Künstler in der Region lebendig und diskussionsbereit
blieben und nicht „hinter den norddeutschen Knicks“ in einem
Schonraum, landesweit gepäppelt, zu anspruchsloser Zufriedenheit
verkommen sind, - die drohende Gefahr der Kulturhoheit der Bundesländer.
Die Anerkennung von Harald Duwes Werk und Wirken hat sich in der Gedenkausstellung
der Hamburger Kunsthalle im November 1984, die Werner Hofmann eingerichtet
hat, ebenso niedergeschlagen wie in der großen Retrospektive, die
ich 1987 in der Kunsthalle zu Kiel veranstaltete. Damit war der Höhepunkt
der Wirkung dieses Werkes zugleich erreicht und überschritten. Die
Tatsache, dass Duwes Werk heute im deutschen Bewusstsein kaum noch eine
Rolle spielt, dass seine Werke von den Museen in die Depots verbannt werden,
dass seitdem keine größeren Ausstellungen in Kunstvereinen
oder Museen mehr stattgefunden haben, ja dass einzelne Bilder als eine
Art dokumentarische Belege nur noch bei Themenausstellungen zu finden
sind, zeigt, dass Duwes Schaffen dabei ist, in Vergessenheit zu fallen.
Das hat mehrere Gründe, die ich versuchen will, zu benennen.
In Schleswig-Holstein hatte man gewiss Duwes Schaffen auch mancherorts
als Belastung empfunden. Manche Künstler fühlten sich an den
Rand gedrängt, zumal sich nicht nur die Kunsthalle zu Kiel unter
meiner Leitung in der Region eindeutig zu diesem Schaffen bekannte, sondern
auch die anderen Museen immer wieder seine Arbeiten zeigten. Bei den Ausstellungen
schleswig-holsteinischer Kunst der Gegenwart war er in der Regel prominent
vertreten. Es ist verständlich und folgt dem Gesetz der Generationen,
dass Duwes Wirkungen nach seinem Tod verblassten. Nach dem Tod eines Künstlers
und nach den gemeinhin folgenden Gedenkausstellungen tritt zumeist eine
Zäsur ein, die notwendig ist, um Distanz zu gewinnen und die Person
vom Werk zu trennen, das nun ohne seinen Meister allein bestehen muss.
Allerdings währt diese Pause in Schleswig-Holstein nun zehn Jahre,
auch ein Grund für uns, wieder an dieses Werk zu erinnern.
Vielleicht spielte in Schleswig-Holstein auch der Regierungswechsel mit.
Endlich, nach mehr als drei Jahrzehnten hatte die SPD 1988 wieder die
Landesregierung übernommen, - auf die Umstände dieser Wahl sei
hier nicht eingegangen. Duwe jedenfalls hätten sie zu Bildern herausgefordert.
Es lag nun der mit sensationeller Mehrheit gewählten Partei daran,
die Wählerscharen auf allen möglichen Gebieten der Landespolitik
freundlich zu stimmen. Duwes kritischer Realismus passte da nicht ins
Bild. Der Gedanke, einen Harald-Duwe-Preis zu stiften, der von der SPD
noch 1987 öffentlich verkündet worden war, wurde stillschweigend
begraben. Die Tatsache jedoch, dass unter der neu gewählten Ministerpräsidentin
diese Ausstellung und Publikation über den Zeichner Harald Duwe möglich
geworden ist, mag hier ein Umdenken signalisieren.
Es kommt aber noch ein anderer, gravierendster Grund hinzu. Wer in den
sechziger bis achtziger Jahren Duwes Werk abschätzig beurteilen wollte,
erinnerte gern an den Sozialistischen Realismus der DDR. Künstler
wie die Nationalpreisträger Gille, Heisig oder Sitte waren Duwe doch
offensichtlich verwandter als die meisten aktuellen Künstler in der
Bundesrepublik. Bilder zu malen, auf denen die Demonstranten Tafeln mit
Kiesinger-Bildnis oder mit Helmut-Schmidt-Konterfei vorzeigten, Bilder,
auf denen Polizisten zuschlugen und Demonstranten Steine aus der Straße
rissen, überhaupt die kritische wahrhaftige und treffende Darstellung
bundesrepublikanischen Wohlstandes am Strand oder am vollen Esstisch,
der Bundeswehr, der bösen Wohlstandskinder, die ihre Torten umklammern
und sich um Schokoladen-Osterhasen streiten, - diese ganze Kunst mit ihrer
aufsässigen Thematik war eigentlich ein bisschen verdächtig,
zumindest eine Parallele zur Kunst in der DDR und deren agitatorischen
Inhalte. Hinzu kam, dass die SED-freundliche Zeitschrift TENDENZEN mehrfach
über Duwes Werk berichtet hatte.
Seit Zerstörung der Mauer, seit der Wiedervereinigung ist auch der
gesamte Realismus, sei er nun DDR-geprägt oder bundesdeutsch, in
Verruf geraten. Künstler wie Gille, Heisig, Sitte und Tübke
wurden nun als abschreckende Künstlerexistenzen verurteilt, ihre
Werke in den Orkus verbannt. Diskussionen in einigen führenden Zeitungen
haben das Verdikt über die DDR-Kunst fürs erste und im Ganzen
scheinbar befestigt. Ich denke, Duwes Schaffen ist in diesem Strudel mit
hineingerissen worden, obgleich es kaum etwas mit der Entwicklung in der
DDR zu tun hat. Duwe selbst war alles andere als ein Kommunistenfreund.
Wenn ich eine Prognose wagen darf, so würde ich die Widerauferstehung
des Duweschen Werkes nicht mehr in diesem Jahrhundert erwarten. Zu sehr
ist es gerade mit der alten Bundesrepublik verbunden, zu sehr auch mit
der Identität der Deutschen überhaupt. Erst wenn die Deutschen
zu sich selbst gefunden, erst wenn sie gemeinsam ihren Standort in der
Welt neu und verpflichtend bestimmt haben, wird auch das Schaffen eines
Harald Duwe seinen historischen und seinen jeweils gegenwärtigen
Wirkungsbereich finden. Dass wir es jetzt, 1994, unternehmen, sein zeichnerisches
Werk wieder ins Bewusstsein zu heben, möchte der öffentlichkeit
die Möglichkeit geben, dieses Schaffen auf seine künstlerische
Aussagekraft hin zu prüfen, dessen Leistung zu erkennen, dessen Grenzen
abzuschätzen. Jeder mag selbst beurteilen, ob oder in wie weit ihn
Duwes Werk heute betrifft. So mag wenigstens ein Wissen um die Substanz
dieses Werkes wach bleiben bis es zu neuer Aktualität entdeckt wird.
Einiges ist schon heute von zeitloser Gegenwärtigkeit. Ich denke
besonders an so manches Strandbild, an die Darstellungen ausgelieferter
Opfer, an die Demonstrationen und die Fördeszenen, ich denke an
die Kinder-Bilder. Sie sind erschreckender Weise so aktuell wie zur Zeit
ihrer Entstehung, sie sind zum Teil noch vor uns, weil wir ihre Botschaft
noch nicht wirklich wahrgenommen haben.
V.
Noch eine letzte Überlegung sei dargelegt. Es ist kein Zweifel, es
sind offensichtlich seit den dreißiger Jahren nicht Werke bildende
Kunst, die uns Katastrophen, Kriege, politische und gesellschaftliche
Ereignisse ins Gedächtnis eingeprägt haben, sondern es sind
Fotografien, es sind Filme, es sind Fernsehbilder. Leni Riefenstahls Filmdramen
sagen mehr und Präziseres über die nationalistische Herrschaft
aus als z.B. Kokoschkas allegorische Agitationsbilder der 40er Jahre.
Die Judenvernichtung vergegenwärtig sich uns im Foto aus dem Warschauer
Getto mit dem kleinen Jungen, der die Hände hoch nimmt oder mit dem
Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“. Dasselbe gilt für die
deutsche Kapitulation, für den Vietnam-Krieg (das Foto mit den Kindern,
die auf den Fotografen zulaufen, mit Napalmwunden bedeckt), für Kennedys
Ermordung, für Willi Brandts Kniefall in Warschau, natürlich
für die Ereignisse am 9. November 1989 und heute für den Krieg
im ehemaligen Jugoslawien und die Uno-Einsätze in Somalia. Es gilt
im Grunde für alles, was sich ereignet, besonders für alles
Schreckliche, nicht Fassbare. Die Kamerabilder prägen unser Gedächtnis,
nicht die der Kunst. (Was geschieht, wenn man einem Ereignis die Bilder
verweigert, lehrt uns der Golfkrieg. Er bleibt für uns ein abstraktes
Feuerwerk in Bagdad.)
Wenn in dieser Situation ein kritischer Realist nicht die Palette an die
Wand hängt und sein Atelier zum Partyraum umbaut, muss er sich dieser
Konkurrenz stellen, in der er jedenfalls erst einmal der Unterlegene ist.
Gegen die Kamera kann er nicht anmalen. Wie schon Otto Dix in seinen Kriegs-
und Krüppelbildern, wie schon George Grosz in seinen Schilderungen
der Raffgesellschaft der Besitzenden der zwanziger Jahre muss er Parabeln,
Gleichnisse erfinden, muss weglassen und komprimieren. Er darf nicht als
Reporter vorgehen und nicht als pathetischer Agitator. Ausgehend von Realität
muss er Realität erfinden. Das Detail muss stimmen, aber diese Stimmigkeit
darf nicht ins Fotografische abgleiten. Der Realist muss sich signifikante
Situationen erarbeiten und muss dabei seine illustrative und narrative
Darstellungslust zügeln. Oft sagt eine Figur, ein Gesicht mehr als
eine Figurenkomposition. Unsere Ausstellung gibt eine Vorstellung von
Duwes unablässiger Bemühung, letzte Konzentration zu gewinnen.
Der Schnappschuss der Kamera, der Zufall des „glücklichen Augenblicks“,
dem so manches unvergessliche Foto seine Entstehung verdankt, ist dem
Realisten verwehrt. Eher ist er zu vergleichen mit dem Regisseur, der
Atmosphäre und Handhabung einer Szene plant, den Kameramann einweist
und dennoch der Eingebung eines Augenblicks, einem Zufall das Beste verdanken
kann. Überdies: Die Inhalte müssen in Malerei aufgehen. Sie
darf nicht das Gerüst des Bildes kolorieren, sie muss es auflösen,
um es in Malerei, in Farbe und Form, in Materialität und diesem kaum
benennbaren Element von Spiritualität neu zu erschaffen. Zwischen
Plakat und dokumentarischem Foto muss der Maler den schwierigen Weg der
Malerei beschreiten. Der Realist braucht also eine Bildvision, die zwischen
Wirklichkeitsnähe und inhaltlicher Tendenz einen zwingenden Ausgleich
findet, der sich im Bild und nur und ausschließlich im Bild vergegenwärtigt.
Harald Duwe ist dies immer wieder gelungen. Ich merke es daran, dass seine
Bilder meine Sicht auf die Wirklichkeit verändert haben. Sitze ich
z.B. am Strand, so sehe ich die dicken Mammis, die Kinder und Wurstesser
mit seinen Augen, - und denke dann oft, er war doch ein Menschenfreund,
die Wirklichkeit ist viel abstoßender. In seinen Kinderbildern hat
er überzeugende Gleichnisse geschaffen, die alles über unsere
Wohlstandsgesellschaft aussagen. Das Thema „Floß auf der Förde“
ist überlokales gültiges Menetekel. Seine Figuren und Bildnisse
aus der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, in denen der Auschwitzzyklus
im Mittelpunkt stand, bleiben in ihrer morbiden Fleischlichkeit zeitlose
Darstellungen von Opfern. Wie sich seine Gefolterten in ihrer grausigen
Eindringlichkeit als Kunstwerke bewähren, bleibt abzuwarten. Fest
steht, immer wenn Duwe reduziert, immer wenn er seine penetrante Direktheit
zügelt, immer wenn er seine thematische Besessenheit beherrscht,
seinen moralischen Protestantismus an die Kandarre nimmt, hat er überzeugende
Bilder geschaffen, in denen Malerei und Inhaltlichkeit aus sich selbst
das Bild errichten und eine neue Einheit bilden.
Aber gewiss ist auch dies: Ohne das Wagnis der großen Erzählbilder,
des Ausmalens von grausigen Details wären ihm diese Werke nicht gelungen.
Scheitern und künstlerischer Erfolg (nicht Kunstmarkterfolg) liegen
bei ihm, wie bei jedem Künstler, der diese Benennung verdient, dicht
beieinander. Wie er sich aus seinen Begrenzungen jeden Tag wieder herausgearbeitet
hat bis zum einzig richtigen Bild, das bleibt seine schöpferische
Leistung. Dabei galt sein Interesse dem Menschen und seiner gesellschaftlichen
und sozialen Umwelt. Hier lag sein Engagement “Partei ergreifen“
– ein Schlagwort der Linken in den siebziger Jahren – lehnte
er ab als idealistische Position. Er war als Künstler Beobachter,
nicht Agitator. Indem er malte, zeichnete, erklärte er sich selbst
die Wirklichkeit der Welt und der Katastrophen – und Unterdrückungsgeschichte
seit 1933, erklärte, klärte er seine eigenen Ängste, Erlebnisse,
Erfahrungen und seine traumatische Befindlichkeit. Er malte für sich
selbst und stellvertretend für uns. Wie weit heute und in Zukunft
die Wirkungen seines Schaffens reichen, - ich weiß es nicht. Doch
ich bin der Überzeugung, dass jeder aufmerksame Betrachter seines
Werkes nicht nur einiges über die Realitäten seiner Zeit erfährt,
sondern auch über sich selbst..
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